30.09.2019

Sozialität in digitalen Lebensräumen

ein Beitrag von Petra Paukowitsch

“Mediale Infrastrukturen wirken somit nicht als Determinanten sondern vielmehr
als ökologische Räume, welche den in der Regel kaum bemerkten
Unterbau gesellschaftlicher Kommunikation bereitstellen.”
(Dickel 2019:225)


Für die meisten Menschen ist es heutzutage kaum vorstellbar, wie man noch vor wenigen Jahren ohne die ständigen Begleiter Smartphone und Internet leben konnte. Wie konnte man Kinder den ganzen Tag ohne Handy spielend auf Achse sein lassen? Wie konnte man ohne digitaler Landkarte und Öffi-Plan überhaupt irgendwo ankommen? Und wie, um Himmels Willen, holte man sich Informationen ein und teilte Ideen mit anderen? Die neuen Kommunikationstechnologien haben sich in unglaublich kurzer Zeit zum festen und scheinbar völlig natürlichen Bestandteil unseres Alltags entwickelt. Sie sind heute so gut wie nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken (vgl. Leistert / Röhle 2018:7; Luxton et al. 2012:195). Im Folgenden soll mit den Konzepten der „synthetischen Situationen“ und „skopischen Medien“ zuerst ein theoretischer Unterbau für die Betrachtung von Sozialität im Digitalen gegeben werden. Danach werden einige Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft beschrieben und abschließend kurz das Thema Privatsphäre im hirstorischen Kontext betrachtet.


Die Mediatisierung von persönlichen Begegnungen
Goffmann und andere Gesellschaftsforscher*innen der Vergangenheit haben soziale Situationen immer an physische Ko-Präsenz gekoppelt. Es ist jedoch erkennbar, dass sich ein wesentlicher und zunehmender Teil unseres alltäglichen Lebens auf die virtuelle Welt verschiebt. Um einer sozialen Situation gerecht zu werden, muss ein Mensch nicht mehr präsent sein, sondern den Gesprächspartner*innen nur in angemessener Zeit antworten. Auf Basis dieser Überlegungen beschreibt die Autorin Karin Knorr Cetina (vgl. 2014; Knorr Cetina et al. 2017) vier Eigenschaften dieser synthetischen Situationen in virtuellen Welten:

  1. Synthetische Situationen passieren nicht in „natürlichen“ Umwelten, sondern insynthetischen, die je nach Bedarf und mit den jeweils passenden Stückchen Informationgestaltet sind und laufend umgeformt werden können.
  2. Sie müssen deshalb ständig überarbeitet werden und sind nicht von gleicher Dauer, wiephysische Umwelten.
  3. Eine synthetische Situation bedarf deshalb mehr Überwachung von Seiten der Akteure.
  4. Außerdem sind in synthetischen Situationen erstmals Bildschirme und User Interfaces diesymbolischen Partner*innen für menschliche Interaktion. 

Diese Bildschirme und Interfaces sind Teil von dem, was Knorr Cetina als Skopische Medien beschreibt. Skopisch sind Gegenstände wie zum Beispiel Periskope oder Mikroskope, also Hilfsmittel, die es dem Menschen erlauben Dinge zu sehen, die für ihn sonst nicht sichtbar wären. Der Begriff Medien bringt zusätzlich eine Komponente der Vernetzung hinzu. Damit sind skopische Medien vernetzte Beobachtungs- und Projektionsinstrumente. In all ihren Ausprägungen teilen sie
sechs Charakteristika:

  1. Skopische Medien machen weit voneinander entfernte Ereignisse, Phänomene undAkteure von einem einzigen Standpunkt aus sichtbar.
  2. Sie „temporalisieren“ Situationen, in dem Sinne, dass der präsentierte Kontext sich ständigändert oder ändern kann. Dies macht eine häufige, wenn nicht gar dauernde Beobachtungdurch die Akteure notwendig.
  3. Grenzen zwischen verschiedenartigen Eindrücken lösen sich auf: so kann gleichzeitigvisuell, akustisch, sprachlich auf unterschiedlichen Ebenen an unterschiedlichen Dingenund Orten gearbeitet werden.
  4. Skopische Medien scheinen „Welten erschaffend“ (world-making, ebd. 2014:44), in dem sieparallele Realitäten zur natürlichen Umwelt kreieren.
  5. Die Handlungsfähigkeit (agency) des Menschen wird in skopischen Medien durchAlgorithmen erweitert, bzw. werden von Algorithmen Handlungen für den Menschenübernommen.
  6. Skopische Medien transformieren face-to-face Situationen in synthetische Situationen, inwelchen eine physische Präsenz des Menschen nicht mehr notwendig ist.

Diese partielle Verschiebung des Sozialen über skopische Medien in synthetische Situationen ist die soziotechnologische Basis unserer alltäglichen Kontakte über WhatsApp, Skype, Facebook, Instagram, etc., die sich in den letzten Jahre zu einer völlig neuen Lebenswelt entwickelt hat (vgl. Prietl / Houben 2018:9). Sie hat nicht nur zu einer neuen Form der Sozialität geführt, sondern auch zu einem neuen Verständnis von Identität und Teilhabe.


Von Konstument*innen zu Prosument*innen
Seit dem Aufkommen der Computer kam es zu einer Veränderung der Infrastruktur der Kommunikation, die auch Auswirkungen auf die Verhältnisse von Sendern und Empfängern hat. Herrschte früher das Kommunikationsprinzip one-to-one, wurde es durch Medien wie Zeitung, Fernsehen und Radio zu einem one-to-many. Mit der Verbreitung und leichten Zugänglichkeit der Online-Medien entwickelte sich ein many-to-many: einfache Konsument*innen wurden zu „Prosument*innen“, das heißt User*innen nehmen aktiv an der Gestaltung der Inhalte teil. Durch speziell designte Interfaces erhalten sie die Möglichkeit einer zunehmenden autodidaktischen Selbstermächtigung, wie man es auf Social Networking Sites (SNS) wie YouTube, Instagram oder Blogging-Seiten sehen kann (vgl. Dickel 2019:222-224). Die Interfaces der SNS fordern User*innen zum Austausch, zu Selbstdarstellung und dem Management der eigenen Identität auf (vgl. Lovink 2018:183; Leistert / Röhle 2018:7). Dadurch tritt das Private vermehrt an die Öffentlichkeit und man spricht von einer „privaten Öffentlichkeit“ (Dickel. 2019:226). SNS haben damit die wichtige Rolle eingenommen, soziales Kapital zur Schau zu stellen: einerseits, dass man Freunde hat und andererseits, mit wem man verbunden ist (vgl. ebd 188). Es wurde bereits wissenschaftlich erhoben, dass die Generation Y (die „späten Millennials“ mit Geburtsjahren 1991- 2000), die mit großen gesellschaftlichen Veränderungen einerseits, und dem Internet und digitaler Kommunikation andererseits groß geworden sind, mit der scheinbaren Notwendigkeit sich selbst auf SNS darzustellen höhere Ausprägungen von Narzissmus aufweisen (vgl. Brailovskaia / Bierhoff 2018:8). An diesen kleinen Beispielen ist bereits sichtbar, dass die Digitalisierung die Gesellschaft
tiefgreifend verändert. Gleichzeitig prägt auch die Gesellschaft mit ihrer aktiven Teilnahme die Digitalisierung (Baecker 2018:125).


Die Relativierung der privaten Öffentlichkeit
Diese öffentlichen Selbstdarstellung auf SNS gilt es im historischen Kontext zu betrachten. Bereits im gehobenen Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts war es Mode, sein Herzblut in innigster, schönster literarischer Form in Briefen an Freunde auszuschütten. Dieser „Briefwechsel der Empfindsamkeit“ (Barth 2019:114) war darauf ausgelegt, das besonders schöne Briefe von ihren Empfänger*innen bei Gesellschaften wie Lesesalons vorgelesen wurden. Die Briefe wurden privat für die Öffentlichkeit verfasst, genauso, wie es mit Postings beispielsweise auf Facebook passiert. Sowohl damals wie auch heute noch, sind sich die meisten Menschen der Zielgruppe ihrer Texte bewusst und passen ihre Sprache und den Schreibstil dementsprechend an. So kommt es zu einer Verschlüsselung der Botschaften, damit sie nur von einer bestimmten Adressatengruppe verstanden werden können: man spricht von sogenannten Insidern. Damit ist die Kommunikation
gleichzeitig inklusiv und exklusiv, über den Ausschluss wird Einschluss geregelt und eine private Kommunikation in der Öffentlichkeit wird möglich (vgl. Barth 2019). Es gibt jedoch einen essenziellen Unterschied zwischen den bürgerlichen Briefen und den Postings heute: Die Social Network Site als Plattform für die Selbstdarstellung und den Austausch. Mit ihren beinahe Monopolstellungen erheben und archivieren sie Unmengen an Daten im Hintergrund und müssen zu Recht viel Kritik dafür einstecken (vgl. Kümpel 2018; Barth 2019).

Fazit
Zusammenfassend lässt sich mit den Worten von Dirk Baecker festhalten, dass SNS wie Facebook die Tautologie der Gesellschaft bewegen, und gleichzeitig die Tautologie der Gesellschaft SNS bewegen (Baecker 2018:125). Seit der Entwicklung der neuen, digitalen Lebenswelt haben sich unsere Wahrnehmung, die Mittel zur Wahrnehmung, unsere Werte und
unser soziales Miteinander stark gewandelt. Kritische Stimmen sprechen sogar von einer Symmetrisierung von Mensch und Maschine – dass sich die Gesellschaft in zunehmendem Maße von der Intelligenz der Technik abhängig macht, und es damit zu einer Machtverschiebung, einer neuen Hierarchie im Internet kommt, wo Algorithmen Entscheidungen für Menschen treffen (vgl. Dickel 2019:222; Felt 2015). Gleichzeitig zeigt sich, dass Menschen in ihrer Adaptivität Mittel und Wege finden, ihre Integrität und Anonymität zu wahren und bewusste Inklusions- und Exklusionsmaßnahmen vornehmen. Die digitale Sozialität ist auf den ersten Blick ganz anders als die „analoge“ Sozialität, birgt andere Chancen und Risiken, andere Codes und Möglichkeiten – vor allem auch in Hinblick auf die Plattformen der SNS. Es bleibt mit Interesse zu beobachten, wo sie
sich noch hin entwickeln wird.
Literatur:
Baecker, Dirk (2018): Nur die Ähnlichkeit unterscheidet uns. In: Leistert, Oliver / Röhle, Theo (Hrsg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 123-125.

Barth, Niklas (2019): Verhaltenslehre der Kälte – private Kommunikation auf Facebook. In: Stempfhuber, M. / Wagner, E. (Hrsg): Praktiken der Überwachten. Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0. Wiesbaden: Springer VS Fachmedien, S. 111–140.

Dickel, S. (2019): Infrastruktur, Interface, Intelligenz. Zur medientechnologischen Bedingung digitaler Vergesellschaftung. In: Heyen, N. B. / Dickel, S. / Brüninghaus, A. (Hrsg): Personal Health Science, Persönliches Gesundheitswissen zwischen Selbstsorge und Bürgerforschung, Wiebaden: Springer VS Fachmedien, S. 219–239.

Felt, Ulrike (2015): Sociotechnical imaginaries of „the internet“. Digital health information and the making of citizen-patients. In: Hilgartner, S. / Miller, C. / Hagendijk, R. (Hrsg.): Science and Democracy. Making Knowledge and Making Power in the Biosciences and Beyond. 1. Auflage, London: Routledge, S. 176-197.

Knorr Cetina, K. / Reichmann, W. / Woermann, N. (2017): Dimensionen und Dynamiken synthetischer Gesellschaften. In: Krotz, F. / Despotovic, C. / Kurse, M. (Hrsg.): Mediatisierung als Metaprozess. Transformationen, Formen der Entwicklung und die Generierung von Neuem. Wiesbaden: Springer VS Fachmedien, S. 35–58.

Knorr Cetina, K. (2014): Scopic media and global coordination. The mediatization of face-to-face encounters. In: Lundby, K. (Hrsg.): Mediatization of communication. Handbooks of communication science, Band 21, Berlin: de Gruyter, S. 39–62.

Kümpel, Anna Sophie (2019): Nachrichtenrezeption auf Facebook. Vom beiläufigen Kontakt zur Auseinandersetung.  Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, Wiesbaden: Springer VS Fachmedien.

Leistert, Oliver / Röhle, Theo (2011): Identifizieren, Verbinden, Verkaufen. Einleitendes zur Maschine Facebook, ihren Konsequenzen und den Beiträgen in diesem Band. In: Leistert, Oliver / Röhle, Theo (Hrsg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 7-29.

Lovink, Geert (2011): Anonymität und die Krise des multiplen Selbst. In: Leistert, Oliver / Röhle, Theo (Hrsg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld: Transcript Verlag, Seite 183-198.

Luxton, David / June, Jennifer / Fairall, Jonathan (2012): Social Media and Suicide: A Public Health Perspective. In: American Journal of Public Health, Supplement 2, 2012, Vol 102, Nummer S2, S. 195-200.

Prietl, Bianca / Houben, Daniel (2018): Einführung. Soziologische Perspektiven auf die Datafizierung der Gesellschaft. In: Houben, Daniel / Prietl, Bianca (Hrsg.): Datengesellschaft. Einsichten in die Datafizierung des Sozialen. Transcript Verlag, S. 7-32.