"Zirkularität" als Analysekonzept in der Diagnoseerstellung und Interventionsplanung

Eine vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Analysekonzepte anhand einer Fallstudie

Ausgangspunkt dieses Forschungsprojektes ist …

die Lebensgeschichte eines über sechzigjährigen Mannes, der seine gesamte Kindheit in unterschiedlichen Einrichtungen der Jugendwohlfahrt verbrachte und im Laufe seines weiteren Lebens immer wieder in unterschiedlichen Institutionen (Psychiatrie, Strafanstalten, Wohnungslosenasylen) lebte. Die vorhandenen Originaldokumente (Gutachten, Aktennotizen, Entlassungsberichte, Urteile, usf.) spiegeln das Ringen der Gesellschaft mit Phänomenen wie Gewalt, Sucht, psychiatrische Symptomatik, Krankheit und Armut in den letzten Jahrzehnten wider.

Die Systemische Sozialarbeit der Wiener Schule …

nimmt in Diagnostik und Methodik stets die Wechselwirkungen innerhalb von Systemen sowie zwischen Systemen und deren Umwelten in den Fokus. Dabei dient das Konzept der "Zirkularität" als zentrales Erklärungsmodell für die Entstehung und für die Aufrechterhaltung von Systemen.

Betrachtet die Sozialarbeit einzelne Akteur*innen oder Elemente isoliert und schreibt diesen – von der aktuellen Dynamik unabhängige und überdauernde – Eigenschaften zu, dann gerät das Prozesshafte sozialen Geschehens aus dem Blick. Das Risiko ist groß, dass von einer solchen Problemanalyse abgeleitete Interventionen zu einer Verfestigung oder auch Eskalation von sozialen Problemlagen beitragen.

Im Projekt wird der Forschungsfrage nachgegangen, …

wie eine zirkuläre Prozessbeschreibung von Problemstellungen zu einer praxisrelevanten Erweiterung der Handlungsalternativen mit dem Ziel der Auflösung oder zumindest der Entspannung von sozialen Konflikten führen kann.

Dazu wird das Konzept der "Zirkularität" zunächst theoretisch fundiert. In einer umfangreichen Fallstudie rund um die genannte Lebensgeschichte wird dieses Konzept dann auf unterschiedlichen Ebenen angewandt und linearkausalen, reduktionistischen Erklärungskonzepten gegenübergestellt. Daraus werden Denk- und Handlungsalternativen für die sozialarbeiterische Praxis sowie Ideen für die Einflussnahme auf das Gesamtsystem erarbeitet.

Titelbild: Milowiz, Walter; Reininger, Christian

 

Projektendbericht

Als Abschluss des gemeinsamen Bachelorprojektes gestalteten die Studierenden gemeinsam mit den Projektleitern Walter Milowiz und Christian Reininger die 25-Jahr-Tagung von ASYS (Arbeitskreis für systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision). Die vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema „Zirkularität“ in der Forschungswerkstatt lässt sich anhand dieser Tagung sehr gut abbilden.

Die Covid-Pandemie stellte das Projektteam vor eine besondere Herausforderung, welche gleichzeitig Chancen offenlegte. Durch die Hybridform aus digitaler und analoger Präsenz war es möglich, dass Teilnehmende in Wien, Feldkirch, Linz sowie über Zoom die Tagung gemeinsam gestalteten. Am Vor- und Nachmittag hielten die Studierenden in ihren jeweiligen Untergruppen Workshops über die Forschungsergebnisse ihrer Bachelorarbeit und erarbeiteten gemeinsam mit den Teilnehmer*innen Schwerpunkte, die anschließend im großen Plenum präsentiert und diskutiert wurden. Zirkularität in der Sozialen Arbeit wurde aus vielen verschiedenen Blickpunkten quer durch Österreich beleuchtet. Ein Teil der Workshops beschäftigte sich mit Methodik. Es wurden Tools vorgestellt, um das Erkennen und Beschreiben zirkulärer Wechselwirkungen in Beratungsgesprächen zu erleichtern und zirkuläre Beschreibungen des Gesamtgeschehens in der Falldokumentation anzuregen. Anhand der Methode des Open-Dialogues wurde eine demokratische (und auch zirkuläre) Form der Diagnoseerstellung diskutiert. Zirkuläre Prozesse zwischen Weltsicht, Sprache und Handlungsmöglichkeiten wurden anhand der Zu- und Beschreibungen in geschriebenen Texten, in Interviews mit Expert*innen und dem Betroffenen untersucht. Auch die konkrete sozialarbeiterische Arbeit im Rahmen eines systemischen Zugangs wurde hinterfragt. Auswirkungen eines an der Zirkularität ausgerichteten Handelns und einer linear-kausalen Arbeitsweise wurden diskutiert und verglichen, weiters wurden Formen der Auseinandersetzung mit der systemischen Denkweise in der sozialarbeiterischen Ausbildung vorgestellt und kritisch hinterfragt. Eine Tagung im Zeichen der systemischen Sozialen Arbeit braucht schließlich auch die Auseinandersetzung mit gelingenden Beziehungen aber auch mit (deren) Scheitern. Auch hierzu konnte ausprobiert und diskutiert werden.

Am Schluss der Tagung, nachdem wir theoretisiert und philosophiert hatten, fiel uns auf, dass wir diese intensive Auseinandersetzung mit Zirkularität zu großen Teilen Herrn P. zu verdanken hatten, der uns seine Fallgeschichte zur Verfügung gestellt hat. Das Plenum beschloss, ihm eine Delegation zu schicken, um ihm ein Büchlein voller Danksagungen der Tagungsteilnehmenden und Seelennahrung in Form von Lesestoff, Süßem und Gesundem zu überreichen. Hr. P. hat sich sehr darüber gefreut - so hatte die ASYS-Tagung als Projektabschluss neben der vielen Theorie auch eine zutiefst menschliche Facette. (Miriam Plank)

"Angewandte Zirkularität in der Sozialarbeit". Fachtagung zum 25 Jahres-Jubiläum von ASYS

Bachelorarbeiten

Augustin, Hannelore (2021): WLADIMIR denkt mit - eine Hälfte zur Selbstreflexion- Zirkularität und Systemische Sozial Arbeit. Bachelorarbeit, St. Pölten.

Dumitriu, Christinel- Bogdanel (2021): Diagnosen und das relevante Verhaltensrepertoire von Klient*innen in ihrer Beziehung zu Institutionen- Eine Fallstudie am Beispiel der Biographie von Herrn P. Bachelorarbeit, St. Pölten. 

Holzer, Andrea/ Prohorska, Daniela  (2021): Merkmale und Kriterien einer sicheren, verlässlichen Vertrauensbeziehung- Eine zirkuläre Betrachtung der Beziehung zwischen Fachkräften und Klient*innen in Multiproblemlagen. Bachelorarbeit, St. Pölten.

Kammerhofer, Marlene (2021): Systemisches Denken und Handeln in einer sozialarbeiterischen Praxis. Bachelorarbeit, St. Pölten. 

Krejac, Gregor (2021): ESDA- Einfache System- Darstellung- Zirkularität und Systemische Soziale Arbeit. Bachelorarbeit, St. Pölten. 

Orsolic, Mladen (2021): Vorzüge des Scheiterns am Beispiel von Fachkräften der Sozialen Arbeit der Wiener Kinder- und Jugendhilfe. Bachelorarbeit, St. Pölten.

Plank, Miriam (2021): Zirkularität in schriftlicher Korrespondenz und Dokumentation am Beispiel eines Klienten der Sozialen Arbeit. Bachelorarbeit, St. Pölten.

Riegler, Anja (2021): Das Henne- Ei- Problem in der Sozialen Arbeit. Ein Vergleich zwischen linearen und zirkulären Herangehensweisen. Bachelorarbeit, St. Pölten.

Stockinger, Celestine (2021): Demokratisierung von Zuschreibungen- Der Umgang mit Zuschreibungen nach dem Open- Dialogue- Ansatz. Bachelorarbeit, St. Pölten.

Wagner, Lena (2021): Zirkularität zwischen professionellen Beziehungen und Zuschreibungen- Eine Fallstudie aus Perspektive der Sozialen Arbeit. Bachelorarbeit, St. Pölten. 

Laufzeit
31.08.2020 – 29.06.2021
Projektstatus
abgeschlossen
Beteiligte Institute, Gruppen und Zentren
Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung