Untersuchung von Lager- und Notbehelfsunterbringungen während der sowjetischen Besatzungszeit.
Hintergrund
Während und nach dem zweiten Weltkrieg musste eine große Anzahl von Menschen ihre Heimatländer verlassen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit befanden sich mehr als eine Million aus unterschiedlichen Gründen versetzte Menschen („displaced persons“), Vertriebene und Geflüchtete in Österreich. Um dies logistisch, administrativ und auch unter sicherheitspolizeilichen Gesichtspunkten zu bewältigen, richteten die alliierten Kräfte diverse Lagertypen mit unterschiedlichen Funktionen für bestimmte Personengruppen ein. Lager stellen in der Nachkriegsgeschichte jene Orte dar, in der sich die Folgen von Zwangsverbringungen, Flucht und Vertreibung im und nach dem zweiten Weltkrieg besonders anschaulich verdichten lassen. Die sowjetische Besatzungszone im Nachkriegsösterreich, die das heutige Niederösterreich, Burgenland, den nordöstlichen Teil Oberösterreichs und mehrere Bezirke Wiens umfasste, bildete hier keine Ausnahme. Die österreichischen Nachkriegslager sind jedoch in ihren vielfältigen Ausprägungen und Verwendungsweisen, den spezifischen Lagerabläufen und den mit der Unterbringung verbundenen Erfahrungen bislang unzureichend erforscht.
Projektinhalt
Das Projekt schließt die Forschungslücke zu den in der sowjetischen Zone gelegenen Lager- und Notbehelfsunterbringungen und führt zwei bislang getrennte Forschungsfelder zusammen: Die Historiographie zu Zwangsmigrationen im und nach dem zweiten Weltkrieg einschließlich deren Bewältigungsversuche und die Historiographie zur sowjetischen Besatzungszone. Ausgangspunkt ist die These, dass die von den Sowjets forcierte Rückführungspolitik („Repatriierung“) andere Ziele als jene der Westmächte verfolgte und damit andere Anforderungen an die Lagerinfrastruktur stellte: Die Betroffenen sollten nach kurzer Versorgung so rasch als möglich repatriiert werden. Die Emigration in einen Drittstaat oder eine Einbürgerung in Österreich wurde offiziell nicht in Erwägung gezogen. Auch deutschsprachige Vertriebene sollten nach Deutschland weitertransportiert werden. Alle sowjetischen Heimkehrenden wurden zudem einer eingehenden nachrichtendienstlichen Untersuchung („Filtration“) unterzogen, um „Spione und „Diversanten“ zu identifizieren. Neben den von diversen Akteuren (v.a. Gemeinden, private Initiativen) eingerichteten Notbehelfsunterkünften entstanden in der sowjetischen Zone unterschiedliche, auf eine rasche Repatriierung ausgerichtete Lagertypen (Filtrationspunkte, Sammel- und Durchgangslager). Diese Vorgänge und andere Themen näher zu beleuchten ist Ziel dieses Projektes.
Vertriebene waren nach Kriegsende in den Baracken dieses ehemaligen Reichsarbeitsdienst-Lagers untergebracht.
© Bildarchiv des Vereines zur Förderung der Erneuerung von Laa.
Ziele
Das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht und der sich anbahnende Konflikt mit den westlichen Alliierten wurde bereits auf einer Makroebene wissenschaftlich untersucht. Die spezifische Situation von Menschen, die sich weigerten in Gebiete unter sowjetische Kontrolle zurückzukehren, war ebenfalls schon Gegenstand von einzelnen Studien. Die unten aufgelisteten Forschungsfragen haben im Gegensatz dazu aber bisher wenig Beachtung erfahren. In diesem Projekt…
- führen wir eine systematische Untersuchung der verschiedenen Lager- und Notbehelfsunterbringungen in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1955 durch.
- untersuchen die Praktiken der Unterbringung mit besonderem Augenmerk auf deren Funktionen und den damit verbundenen Abläufen (z.B., die Machtstrukturen und/oder Souveränität in den Lagern, die subjektiven Erfahrungen und Handlungsspielräume der Beteiligten ).
- richten den Fokus auf die Rollen der verschiedenen Akteure. Dies schließt das administrative Personal, die Untergebrachten, aber auch Leute aus der näheren Umgebung ein.
- fragen wir nach dem vorhandenen Wissen über die Lager- und Notbehelfsunterbringungen und wie diese lokal erinnert werden.
Methodik
Das Projekt teilt sich in vier Module. In Modul I wird systematisch erhoben, welche Unterbringungsformen es in der Sowjetischen Besatzungszone (von 1945-1955) gab und worin sie sich unterschieden. Dies gibt Antworten auf Fragen wie – um einige Beispiel zu nennen – an welchen Orten Lager- und Notbehelfsunterbringungen errichtet wurden, welche Personengruppen dort untergebracht wurden und wie lange diese existierten. Anhand ausgewählter Lagerstandorte erfolgt dann die historische Rekonstruktion der Unterbringungen über einen zweifachen Zugang: 1) Die typologische Analyse (Modul II) erschließt die Charakteristiken, Funktionen sowie die sozialen und (bio)politischen Ordnungen der jeweiligen Lager. 2) Im anschließenden Modul III werden ausgewählte Abläufe der Unterbringung als komplexe Verflechtung zwischen den beteiligten Personen, Institutionen und Akteur*innen untersucht. Das Module IV hat die Erinnerungskultur und was und wieviel Wissen über die Nachkriegslager noch vorhanden ist, zum Inhalt.
Ergebnis
Das Projekt leistet einen wissenschaftlichen Beitrag, indem es den Wissensstand zu Nachkriegslagern und Notunterkünften in der sowjetischen Besatzungszone ausbaut und deutlich macht, inwiefern sich diese von Unterbringungsformen der westlichen Mächte unterschieden. Es vertieft zudem das Wissen über die verschiedenen Lager, darüber welche Funktionen sie hatten, wie sie betrieben wurden und ob die Erfahrungen der Menschen, die in den verschiedenen Lagern untergebracht waren, einander ähnelten oder nicht. Dass die Vorläufer heutiger Lager in Europa stärker in den Fokus gerückt werden, macht es möglich Vergleiche anzustellen, Unterschiede zu heutigen Lagern herauszuarbeiten und entsprechende Lehren daraus zu ziehen. Die interdisziplinäre Ausrichtung des Projektes vereint Ideen und Methoden aus den Sozialwissenschaften mit jenen aus der Geschichtsforschung. Die Bedingungen in den Lagern der sowjetischen Besatzungszone werden mit dem Rüstzeug der Soziologie aufgearbeitet, ohne dabei die historischen Aspekte aus dem Auge zu verlieren. Auf diese Weise erschließen sich neue Erkenntnisse. Des Weiteren gibt das Projekt Bürger*innen (über „Citizen Science“) die Möglichkeit sich an dem Projekt aktiv zu beteiligen und zum Wissenserwerb über die untersuchten Camps beizutragen. Dies stellt auch einen Anreiz dar, sich näher mit der eigenen Geschichte zu befassen und eine gedankliche Brücke von den damaligen Ereignissen zu den heutigen Erfahrungen mit Migration und Flucht zu schlagen.
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Department Soziales
Katharina Bergmann-Pfleger
Hannes Leidinger
Martin Sauerbrey
- Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung